Über mangelnde Abwechslung brauchen sich Motorradfahrer auf einer Reise durch Bulgarien­ nicht zu beklagen. Auf verkehrsarmen Strecken können sie von waldreichen Bergregionen über hügelige Steppenlandschaften und weite Ebenen bis hin zur Steilküste des Schwarzen Meeres eine große landschaftliche Vielfalt erleben.


Land / Region:
Bulgarien / Gesamt

Charakter:
Straße, Piste

Länge:
1400

Reisezeit:
Mai bis Oktober



„Das ist Georgi“, stellt Hans uns einen etwa 70-jährigen Mann vor. Auch Hans haben wir gerade erst kennen gelernt. Er ist Holländer und wie Raphaela und ich Gast in der Dorfkneipe von Kovacevica im Rhodopengebirge. Jetzt setzt sich also noch Georgi dazu. Georgi wohnt offenbar hier im Dorf und spricht zu unserem Erstaunen ein sehr gutes Englisch. Und der Mann kann Geschichten erzählen. Mit jedem Rakija, wie sie den Traubenschnaps hier nennen, wird es abenteuerlicher. Von tatsächlich wirksamen Racheschwüren weiß er ebenso zu berichten wie von einer erpresserischen Witwe und dem Dorfbewohner Toma, der sieben Tage im Leichenhaus gelegen haben soll, bevor er wieder auferstanden ist. Wir staunen und lachen, bis sich Georgi verabschiedet. Er hat noch Termine. An einem Nachbartisch sitzt die Bürgermeisterin des Ortes, mit der es etwas zu besprechen gibt. „Wisst ihr, wer das war?“, fragt Hans bedeutungsvoll. Auf unser Kopfschütteln hin lüftet er das Geheimnis um Georgis Person. Georgi heißt mit Nachnamen Danailov – auch das sagt uns zunächst mal gar nichts. Hans muss weiter ausholen. Also: Georgi war der Vorreiter einer Gruppe Intellektueller aus Sofia, die sich bereits zu kommunistischen Zeiten in dem stark entvölkerten Rhodopendorf angesiedelt hat. Mittlerweile ist Danailov ein international anerkannter Schriftsteller und all die wilden Geschichten lassen sich auch in seinem Buch „Ein Haus jenseits der Welt“ nachlesen.

Solche überlieferten Geschichten – mögen sie nun stimmen, überzeichnet sein oder nur gut erfunden – sind in ihrer Dichte und Pointiertheit eine gute Quelle, etwas über die Mentalität der Menschen in einem Land zu erfahren. Und über Bulgarien und seine Bewohner wissen wir zu Beginn unserer Reise zugegebenermaßen sehr wenig.

Die ersten Etappen unserer zweiwöchigen Tour hatten auch eher touristischen Charakter. Das berühmte Rila Kloster mit seinen gestreiften Fassaden und den opulenten Fresken haben wir besucht. Auch dem Pirin Nationalpark haben wir pflichtgemäß einen Besuch abgestattet. Allerdings mussten wir erkennen, dass dieses bis fast 3000 Meter hohe Gebirgsmassiv besser zu Fuß erkundet wird.

Spannend wird es, als wir den Hauptstraßen den Rücken kehren. Nahe dem Wintersportzentrum Bansko am Fuße des Pirin biegen wir ostwärts in die Berge ab. Wir folgen einem Sträßchen, das abschnittsweise von laubgedeckten Holzgestellen gesäumt ist, unter denen sich Frauen zu schaffen machen. Als wir bemerken, dass der betörend süßliche Geruch, der uns schon eine Weile in den Helm weht, von diesen Stellagen ausgeht, werden wir neugierig. Am Ortsrand von Osenovo gehen wir der Sache schließlich auf den Grund: mit riesigen Nadeln ziehen die Frauen Tabakblätter auf Fäden und hängen die duftende Ernte im Schutz der Laubdächer zum Trocknen auf.

Flankiert von riesigen weißen Kugelfelsen zieht sich die Straße weiter bergwärts. Der Asphalt bleibt hinter uns zurück, auf einer Schotterpiste rollen wir durch dichten Nadelwald. Zwanzig Kilometer haben wir bereits zurückgelegt, ohne dass uns ein Auto begegnet wäre. Auf Lichtungen hin und wieder eine Jagdhütte, von Menschen aber weit und breit keine Spur. Erst als sich das Flusstal, an dessen Flanke sich die Piste entlang schlängelt, etwas weitet, dringt mir etwas Zweitaktabgas in die Nase. Die Ursache taucht denn auch gleich hinter der nächsten Kurve auf. Auf einer uralten Jawa eiern zwei Jungs in Schlangenlinien den Weg entlang. Während der Vordere das altersschwache Gefährt mühsam auf Kurs zu halten versucht, balanciert sein Hintermann ein riesiges Reisigbündel auf seinen Schultern. Ziel der abenteuerlichen Fuhre ist ein erstaunliches Lager am Wegesrand. Aus Fichtenzweigen und Plastikplanen haben die Bewohner ein Hüttendorf errichtet. Alles ist akkurat eingezäunt, sogar einen separaten Kinderspielplatz mit Geräten aus Holzstämmen gibt es. Zeichen des technischen Fortschritts ist eine Energiesparlampe, die am „Dorfplatz“ einsam von einer Stange baumelt. Mit Elektrizität versorgt wird das Leuchtmittel von einem kleinen Generator, der von einem selbst gezimmerten Wasserrad angetrieben wird. Was die Leute hier eigentlich machen, können wir wegen der Sprachbarriere nicht herausfinden. Zu der Minderheit der „Cigane“, wie sich die Zigeuner in Bulgarien nennen, scheinen sie vom Aussehen her nicht zu gehören. Eher handelt es sich um professionelle Pilzsammler. Letztlich ist es auch egal, die kleine Gemeinschaft, bestehend aus einem knappen Dutzend Familien, hat sich hier mitten im Wald ein zwar einfaches aber irgendwie harmonisch wirkendes Idyll geschaffen.

In Serpentinen führt die Piste nun steil hangabwärts, der Wald lichtet sich, und schon bald tauchen die mit mächtigen Steinplatten gedeckten Dächer von Kovacevica auf. Etwas angeschlagen vom gemütlichen Abend in der Dorfkneipe räumen wir anderntags unser Quartier in einem der wunderschön restaurierten Steinhäuser.
Wieder schier endlos erscheinen die Nadelwälder, die die Straße begleiten. Angesichts dieses Waldreichtums fühlt man sich in den Rhodopen fast ein wenig an Skandinavien erinnert.

Für den Weg nach Smoljan haben wir als Alternative zur Hauptstrecke eine schmalere Straße am Fuße des Mursalica Massivs gewählt. Wir haben uns ganz offenbar die richtige Jahreszeit für diese Passage ausgesucht. Denn sogar jetzt im Hochsommer muss gleich nach dem Abzweig von der Landstraße eine gut fünfzig Meter breite Wasserdurchfahrt gemeistert werden. Während der Schneeschmelze dürften hier allenfalls schwere Lastwagen durchkommen. Der geschotterte Fahrweg folgt einem Tal mit leichter Steigung. Zunächst begleiten uns noch Weiden, bald rücken die Flanken jedoch enger zusammen. Steinbrocken von Kiesel- bis Kürbisgröße haben sich aus den Felswänden gelöst und liegen verstreut auf der Fahrbahn. Das schult die Blickführung, macht mich aber auch skeptisch. Allzu viele Fahrzeuge scheinen den Weg nicht zu benutzen. Und keine breiten. Ein paar Kubikmeter Fels versperren den Weg. Nur mit Mühe kann ich die BMW zwischen den Brocken durchdirigieren. Wenige Kilometer weiter wurde eine eingestürzte Brücke durch eine grob geschobene Furt ersetzt. Immer schlechter wird der Zustand des Weges, bis sich die Massen eines Felssturzes vor uns auftürmen. Nur einen winzigen Streifen am Fahrbahnrand haben die Trümmer freigelassen. Nachdem wir das Gepäck über die Steine gewuchtet haben, balanciere ich die Maschine knapp am Abbruch zum Bachbett um die Felsen herum. Doch die Mühe soll sich nicht auszahlen. Kaum hat sich der Puls beruhigt, das nächste Hindernis: wieder eine beschädigte Brücke. Die wenigen noch verbliebenen Balken sind so morsch, dass man selbst zu Fuß sehr vorsichtig sein muss. Eine Umfahrung durch das felsige Bachbett scheidet ebenfalls aus. Schade. So müssen wir also doch die Hauptstraße nach Smoljan fahren.
Smoljan trägt wegen seiner kilometerlangen Erstreckung entlang des Arda-Oberlaufes den Titel der „längsten Stadt Bulgariens“. Die Auszeichnung der „schönsten Stadt“ dürfte sobald allerdings nicht hinzukommen. Das wenig einladende Erscheinungsbild bewiegt uns, die Tagesetappe noch etwas zu verlängern. Für den Ort Smiljan verspricht der Reiseführer ein angenehmeres Ambiente. Nur wenige Kilometer auf einem weiß in der Karte verzeichneten Sträßchen trennen uns noch vom anvisierten Nachtquartier. Auch das GPS stimmt uns zunächst optimistisch. Doch bald wird klar, dass die tatsächlich gefahrene Strecke nichts mit den Karteninhalten zu tun hat. Nachdem wir bereits in zwei Dörfern wenden mussten, lege ich einen Luftlinienkurs fest. Und siehe da, es findet sich ein schmaler Fahrweg der recht gut zur angepeilten Richtung passt. Durch Walnusshaine, über verbuschte Wiesen und vorbei an aufgelassenen Gehöften rollen wir untertourig durch ein Hügelland mit tief eingeschnittenen Tälern.

Während dunkle Wolken das Abendlicht dämpfen, löst sich zunächst kaum merklich die uns vertraute Struktur der Landschaft auf. Unsere Orientierungsgewohnheiten sind geprägt von einer klaren Gliederung der Umgebung in Einheiten wie Siedlungen, Wälder oder Grünland. Darin befindet sich idealerweise ein Netz aus Verkehrswegen, über das sich jeder Punkt in der Landschaft mehr oder weniger einfach erreichen lässt. Doch hier gehen Wiesen schleichend in Buschwerk über, Sträßchen verengen sich zu Trampelpfaden, Fahrwege enden unvermittelt vor einer Schlucht. Da lugt ein Dach über einen dichten Hain, doch kein Weg führt hin. Dort verspricht ein Pfad, uns in die richtige Richtung zu führen, entschwindet jedoch bald durch ein Schlupfloch in einer dornigen Hecke.
Eine Stunde schon suchen wir den Weg nach Smiljan. Ein wildes Zackenmuster zeichnet sich auf dem Display des GPS ab. Als Kind habe ich mich immer gewundert, wie die Figuren in alten Erzählungen so ungeschickt sein konnten, sich in Wald und Flur zu verirren. Stellt man sich eine ähnlich unübersichtliche, von Flurbereinigung und industrieller Bewirtschaftung verschonte Landschaft als Schauplatz der Handlung vor, lässt sich die Not früherer Wandersleute nachfühlen.
Für uns als Reisende der Neuzeit ist dieser kurzfristige Orientierungsverlust natürlich kein Grund zur Panik. Unsere digitale „Brotkrumenspur“ im Cockpit weist uns zuverlässig den Weg zurück zur Hauptstraße. Ein kräftiger Gasstoß befördert uns das erdige Steilstück durch einen baufälligen Feldrain hinauf, ein paar hundert Meter über raschelndes Laub, eine Bachquerung, vorbei an einem verfallenen Häuschen, aus dem ein apathischer alter Mann lugt, und schon haben wir wieder Asphalt unter den Rädern.

Die tief hängende Wolkendecke hat sich weiter verdichtet, so dass wir – auch angesichts von gleich zwei unpassierbaren Nebenstrecken an einem Tag – gerne auf der gut ausgebauten Landstraße bleiben. Nach kurzer Fahrt tauchen die ersten Häuser von Smiljan auf. Ein riesiges Schild weist uns den Weg zu einem Hotel. Eine stattliche Anlage, ganz neu, mit Hotel, Nebengebäuden und Appartementhäusern hat hier jemand am Ufer eines aufgestauten Flusses errichtet.
Aufgemotzte Luxuslimousinen sind achtlos auf den Fußwegen geparkt, wir stellen die BMW lieber mal ordentlich an den Rand. Hier, mitten in der Grünanlage, könne sie auch stehen bleiben, werden wir von einem Englisch sprechenden jungen Mann beschieden. Nein, eine Garage gäbe es nicht. Die wäre auch nicht nötig, denn wer hier etwas stehle, bekäme sehr, sehr große Probleme. Mit zwei ausgestreckten Fingern der rechten Hand deutet er eine Pistole an. Das Haus scheint ja unter mächtigem Schutz zu stehen.

Sehr lange halten wir uns beim Barbecue im Freiluftrestaurant nicht auf. Lieber machen wir es uns in dem ebenso riesigen wie komfortablen Zimmer gemütlich. Denn die morgige Etappe verspricht lang zu werden.

Die schweren Wolken des Vorabends haben einem strahlendblauen Himmel Platz gemacht, als wir früh am nächsten Morgen das taunasse Motorrad besteigen. In gewohnter Manier spulen wir eine kurvige Bergstraße durch dichten Nadelwald ab. Dass es gegen Mittag immer heißer wird, liegt nicht nur am hohen Stand der Sonne. Im Laufe des Vormittags haben wir einige hundert Meter an Höhe verloren, die Landschaft wird offener, flacher, der Wald immer spärlicher.
Inmitten gelb-braun verbrannter Hügel breitet sich die Stadt Kardzali dies- und jenseits des aufgestauten Ardaflusses aus. Kardzali ist kein architektonisches Juwel, dafür sehr quirlig und mit den zahlreichen Cafés und Restaurants genau der richtige Ort für eine Mittagspause. Köfte und eine pappsüße Baklava zum Nachtisch verraten bereits den starken Einfluss der nahen Türkei, der sich in diesem südöstlichen Landesteil auch mehr als 120 Jahre nach dem Ende der osmanischen Herrschaft erhalten hat.

Der Fluss Arda gibt uns für eine Weile die Richtung vor. Zunächst in einiger Entfernung, dann ganz nah an dem hochsommerlich träge dahin fließenden Wasser folgen wird dem Strom in eine Schlucht. Geier kreisen majestätisch in den warmen Aufwinden über den roten Felswänden. Mit Jahr Millionen währender Beharrlichkeit hat der Fluss einige vollendete 180-Grad-Mäander ins Gestein gegraben. Erst kurz vor der türkischen Grenze verlassen wir den Strom und wenden uns nordwärts Richtung Topolovgrad, von wo wir am kommenden Tag zur Durchquerung des Strandza Nationalparks aufbrechen möchten.
Viel los ist nicht in dieser Gegend, die ihren Namen dem flachen, in der Landschaft kaum wahrnehmbaren Höhenzug Strandza verdankt. Es kann schon mal eine Viertelstunde dauern, bis wieder ein Dorf in Sicht kommt. Die Siedlungen selbst wirken verlassen. Viele der unverputzten Ziegelhäuser stehen leer, Scheiben sind zerbrochen, Dächer eingefallen. Am Rande der Ortschaften verfallene Relikte der Planwirtschaft. Riesige Ställe, in denen das letzte Gackern oder Oinken längst verhallt ist, nur mehr der Wind, der durch die leeren Fensterhöhlen pfeift, macht unheimliche Geräusche. Gras sprengt die Betonwege, Buschwerk legt gnädig einen Mantel über die rostigbraunen Ruinen.

Hügelauf- und hügelab führen uns teils nur einspurige Sträßchen durch dichte Steineichenwälder. Je weiter wir nach Osten kommen, desto seltener werden Lichtungen im dichten Grün, Ortschaften haben fast schon Seltenheitswert.

Wie es sich für einen ordentlichen Vertreter seiner Art gehört, hat auch der Strandza Nationalpark eine Art Themenpfad. Dieser trägt den bedeutungsschweren Namen „Green Corridor“. Sogar mit dem „Sports Utility Vehicle“ soll dieser Weg, der sich zwischen Zvezdec und Gramatikovo befindet, befahrbar sein. Aber auch der Ritt auf dem Esel oder ein Fußmarsch werden als geeignete Fortbewegungsarten für die Erkundung empfohlen. All diese Informationen entnehmen wir einer Hinweistafel, auf der es auch eine sehr detaillierte Karte gibt. Ihr Studium verrät uns, dass wir zunächst dem Fluss Mladezka bis zu seiner Einmündung in die Veleka folgen werden, diesem Gewässer dann bis zur nächsten Straße. Die Karte in unserem GPS-Gerät weiß von alldem nichts. Sicherheitshalber lege ich noch den nächs­ten größeren Ort als Zielpunkt fest, damit haben wir zumindest einen groben Kurs. „Goto“ gedrückt – und ab geht’s in den Grünen Korridor.

Wann auf dem einspurigen Weg wohl das letzte SUV gefahren sein mag, geht es mir durch den Kopf. Armdicke Äste, die kaum anderthalb Meter über dem Boden über die Piste ragen, sprechen nicht gerade für eine intensive Nutzung. Während ich mir noch Gedanken über die Verkehrsdichte mache, erfordert ein Hindernis meine Aufmerksamkeit. In dem Moment, indem der Wald sich lichtet, versperrt dichtes Gestrüpp den Weg. Keine Chance, da durchzufahren. Vorsichtig bahne ich mir zu Fuß einen Weg durch dorniges Rankwerk. Nach zwanzig Metern stehe ich an einem senkrechten Abbruch: die kümmerlichen Reste eines Brückenkopfes, von der Brücke selbst keine Spur. Super. Raphaela hat unterdessen einen winzigen Pfad entdeckt, der von der Piste ins Unterholz abzweigt. Tatsächlich führt dieser zum Fluss hinab und am jenseitigen Ufer trifft er nach einem steilen Anstieg wieder auf die Hauptstrecke. Da keine technischen Schwierigkeiten zu entdecken sind, dirigiere ich die BMW über die ebenso schma­le wie sandige Umleitung durch die Flussaue. Drüben angekommen, steigt Raphaela wieder zu, und bis auf einige leicht zu umfahrende umgestürzte Bäume ist die Piste gut in Schuss. Bis zur nächsten Brücke – oder deren Resten. Hier gestaltet sich die Umfahrung schon schwieriger, da ein riesiges Gestrüppfeld durchquert werden muss. Es bleibt nur die Brachiallösung: einfach darauf vertrauen, dass keine größeren Baumstämme im Dickicht verborgen sind, alles andere wird der vollbeladene Boxer schon niederwalzen. Gedacht, getan. Doch keine zweihundert Meter weiter das nächste Hindernis. Diesmal ist es nur eine kurze, etwa drei Meter lange Brücke aus Baumstämmen. Die Stämme sind noch da, allerdings in der Mitte geknickt. Die ganze Konstruktion hängt V-förmig in luftiger Höhe. Jemand hat mit Steinbrocken und Sand den spitzen Winkel am tiefsten Punkt etwas entschärft. Vorsichtig lasse ich das Vorderrad durch den Scheitel rollen. Nur ein leichtes Ächzen. Als das Hinterrad am tiefsten Punkt angelangt ist, muss ich Gas geben. Ganz vorsichtig. Die Stollen des Conti pressen Kiesel zwischen den Stämmen durch, Sand rieselt, der ganze Verhau knirscht und zittert. Grip. Noch etwas Gas, geschafft.

Damit haben wir den Point of no return überschritten, denn ob das baufällige Gebilde einer zweiten Befahrung standhält, möchte ich nicht ausprobieren.
Scheinbar waren das drei Bewährungsproben, denn ohne zu wissen, was uns noch erwartet, sind wir plötzlich sehr erleichtert und haben erst jetzt Augen für die wunderbare Landschaft. Im gedämpften Halbdunkel rollen wir auf einem raschelnden Laubteppich dahin. Knorrige Buchen strecken ihre Wurzeln zu dem gewundenen Flüsschen hinab. In kleinen Kaskaden plätschert kristallklares Wasser über bemooste Steine.

Als ob die Atmosphäre noch nicht märchenhaft genug wäre, passieren wir auf einer Lichtung einen rauchenden Kohlenmeiler. Wo der Köhler wohl sein mag?
Einen knappen Meter ist der Weg oft nur noch breit. Stachelige Ranken greifen nach den Reisenden. Plötzlich ein paar Farbtupfer auf dem Kiesbett am Fluss. Es sind bunt gekleidete Frauen. Als wir näher kommen, tauchen ein paar einfache Zelte auf, keine Autos, nur ein Fuhrwerk und ein paar magere Pferdchen – ein kleines Zigeunerlager.

Der Zauber des Waldes wirkt sich auch auf den Fahrstil aus. Mit ganz wenig Gas rollen wir durch die Idylle, man fühlt sich hier fast wie ein Eindringling in einer anderen Welt. Doch peu à peu häufen sich die Indizien, dass unsere Reise durch den Märchenwald bald zu Ende gehen wird. Eine reparierte Brücke kündigt unsere Rückkehr in die Jetztzeit ebenso an wie frische Reifenspuren. Nach 35 Kilometern Waldweg erreichen wir eine asphaltierte Straße.

Ganz schwarz ist es zwar nicht, aber sehr, sehr dunkelblau, das Schwarze Meer. Als leuchtender Streifen kontrastiert der blaue Horizont mit dem rötlichgoldenen Gras, das sich in der abendlichen Brise wiegt. Ein paar gebeugte, zerrupfte Bäume halten hoch oben an der Steilküste den Elementen stand, einige ihrer Artgenossen sind bereits in die Tiefe gestürzt, wo das Meer in unermüdlicher Arbeit Stück für Stück vom Festland abträgt, um es andernorts als Strand wieder anzulagern.
Erfrischend, wie nach einem anstrengenden Fahrtag nun die kühle, salzige Luft ins geöffnete Visier strömt. Trotz reger Bautätigkeit sind im südlichsten Abschnitt der bulgarischen Schwarzmeerküste noch einige Bereiche weitgehend naturbelassen. So können wir außerhalb der Badeorte immer wieder von Hügelkuppen den Blick über die Küstenlinie genießen, bis die Straße wieder in dichtem Eichenwald verschwindet.

Bremslichter, ein Stoppschild, mitten im Wald eine Schranke, Uniformierte – ein Kontrollposten. Bis wir mit der Abfertigung an der Reihe sind, versuche ich mir einen Überblick zu verschaffen. Der Checkpoint liegt an einer Schneise, die sich schnurgerade durch den Wald erstreckt. Darin verlaufen zwei parallele, mit reichlich Stacheldraht garnierte Reihen weit über mannshohen Zaunes. Hier, nur ein paar Kilometer von der türkischen Grenze entfernt, hat sich ein Stück des Eisernen Vorhangs erhalten. Ein Teil jenes kaum bekannten und vielfach unterschätzten Sperrwalls an der Südgrenze des ehemaligen Ostblocks, der noch bis ins Jahr 1989 Freiheit suchenden DDR-Bürgern zum tödlichen Verhängnis wurde.

Der Grenzbereich steht bis heute unter spezieller Kontrolle, doch nach ebenso freundlicher – auf Deutsch – wie zügiger Passkontrolle dürfen wir die letzten Kilometer bis Rezovo in Angriff nehmen.

Rezovo ist ein Fremdenverkehrsort zwischen den Zeiten. Privatleute bieten Zimmer in ihren geduckten Häuschen zum Übernachten an, alte oder neue oder neue-alte Nomenklatura genießt die Sommerfrische in der eigenen Datsche, und während die das Ortsbild überragenden Grenzsicherungsanlagen vor sich hin rosten, haben Investoren schon die ersten Hotels aus dem Boden gestampft.

Ein letzter Blick zur rotweißen türkischen Flagge am anderen Ufer des Grenzflusses Rezovska, dann nehmen wir frühmorgens die Küstenstraße in nördlicher Richtung in Angriff. Der zeitige Start stellt sich bald als kluge Entscheidung heraus. Bereits kurz vor der Hafenstadt Burgas ist es mit dem entspannten Kurvenschwingen vorbei. Trotz großzügig ausgebauter Ringstraße staut sich der Verkehr schon am frühen Vormittag. Und es wird nicht besser. Nördlich der Stadt folgt ein Badeort auf den anderen. Sonnenbebrillte Papas im Einheitslook aus Badelatschen, Dreiviertelhose, Muscle Shirt und diagonal über die Brust geschnalltem Wimmerl lotsen ihre Familien über die vierspurige Straße vom Hochhausdomizil zum Strand, der irgendwo hinter dem Häusermeer sein muss.
Mit dem Kilometerschnitt geht auch die Laune in den Keller. Den Besuch der nordbulgarischen Hafenstadt Varna streichen wir nach kurzer Beratung und fliehen auf einer Nebenstraße westwärts von der Küste.

Nach der Durchquerung der hügeligen Ostausläufer des Balkangebirges gelangen wir in das Flachland von Nordbulgarien. Ein kaum noch ausgeprägtes Relief, riesige Felder, Hochspannungsleitungen, flirrender Asphalt bis zum Horizont – der Unterschied zur kleinteiligen Landschaft südlich der Gebirgsbarriere, die das ganze Land von West nach Ost durchzieht, könnte größer kaum sein. Doch auch in dieser monotonen Einöde, die sich über die Donau hinweg bis weit ins südliche Rumänien erstreckt, gibt es Kleinode zu entdecken. Die Schluchten des Rusenski Lom und seiner Nebenflüsse beispielsweise.

Fast hundert Höhenmeter führt uns die kleine Straße hinab. Statt des öden Graubrauns auf den Hochflächen herrschen am Grund des Canyons zu Füßen zerklüfteter Felswände Grüntöne­ vor. Der Fluss mäandert unverbaut durch die Auen, dichte Wäldchen folgen seinem Lauf. Hinter einer Brücke die ersten Häuser von Nisovo, typische Walmdachbauten, umgeben von großen, üppig bepflanzten Gemüsegärten.

Sofort ins Auge sticht in diesem verschlafenen Ort ein nagelneuer Gebäudekomplex. In moderner Architektur, mit hellem Naturstein verkleidet, präsentiert sich das Hotel „Schwarzer Storch“. Nur die Zementsäcke vor dem Haus stimmen uns etwas skeptisch. Doch kaum haben wir die Helme abgenommen, werden wir bereits freundlich begrüßt. Das gesamte „Management“ eilt herbei, wir haben die Ehre, die ersten Gäste in dem sehr geschmackvoll gestalteten Haus zu sein. Die großteils intakte Natur in dem Schluchtensystem hat die Betreiber bewogen, das Hotel hier zu eröffnen und ganz auf Ökotourismus zu setzen.

Tracks für Mountainbikes und Wanderer sind in Planung, wir müssen uns anderntags auf einer ausgedehnten Wanderung allerdings noch mit dem GPS unseren Weg durch die Auen suchen.

Die von zahlreichen natürlichen Höhlen durchzogenen Felswände boten schon zu prähis­torischen Zeiten Menschen Unterschlupf. Vor rund siebenhundert Jahren begannen Mönche, Höhlen, die zuvor von Eremiten bewohnt worden waren, zu Klöstern umzugestalten. In einem Zeitraum von rund 400 Jahren entstand so ein ausgedehntes System von Höhlenklös­tern in den Lom-Schluchten.

Während das Kloster, das wir auf unserer Wanderung nahe Nisovo über eine abenteuerliche Felstreppe erklettern, heute nicht mehr als eine etwas ausgebaute Höhle ist, leuchten die Fresken im wichtigsten der Felsenklöster, der Anlage von Ivanovo, in einer Farbenpracht, der man ihr Alter von 500 Jahren nicht ansieht.
So lassen wir unsere Reise ausklingen, wie sie begonnen hat: mit etwas Sightseeing. Die alte Zarenhauptstadt Veliko Tarnovo steht noch auf dem Programm ebenso wie das Kloster von Trojan im zentralen Balkangebirge. Sehenswerte Orte, auf jeden Fall. Doch wie auf den meisten Reisen war auch bei dieser Tour durch Bulgarien wieder all das am inter­essantesten, was zwischen den Stationen liegt – die zufällige Entdeckung, die Begegnung am Wegesrand.


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